„Ich muss einfach mal raus“, sagt meine Freundin, sagt mein Nachbar, sagt meine Chefin, sagt mein Bruder, sagt meine Katze, sagt meine Intuition. Wir verwenden die Floskel, wie wir uns die Zähne putzen. Automatisch und ohne groß darüber nachzudenken. Das Mantra von Fluggesellschaften und Werbeagenturen, von Klimawandel und Kapitalismus. Ich komme aus einem 900 Seelen Dorf. Der Bäcker hat schon vor Jahren zugemacht, die Floristin sehe ich nur Trauerkränze stecken. Der einzige Laden, der ab und zu Kundschaft zu haben scheint, ist der Metzger am Ortsausgang. Wenn ich an meine Kindheit denke, dann denke ich an dicke Fleischwurststücke von der Theke, an den süßlich-herben Geruch der Metzgerfachverkäuferin und an meine Mutter, „mach die Pelle ab vorm Essen. Und nicht alles auf einmal.“ Mein erster ausgefallener Milchzahn ist in einem Stück Wurst stecken geblieben. Das Gefühl, einfach mal rauszumüssen wurde mir quasi in meinen Pastinaken-Brei gemischt, es begleitet mich seit ich weiß, dass es mehr gibt, als die nächstgrößere Stadt und Omas Haus im Saarland. Wir wollen alle raus, während es gleichzeitig zu Hause am schönsten ist. Was wollen wir denn wirklich?
Ich schaue aus dem Fenster, während ich das schreibe. Ich sehe Häuser und Häuser und Häuser und Häuser, in der Ferne erkenne ich den Fernsehturm. Gestern habe ich die Demo gegen steigende Mieten verpasst. Wahnsinn, der Mietenwahnsinn. Ich kann mich gut aufregen, mein deutsches Kartoffel-Ich beschwert sich so gern. Ich benutze oft das Wort Gentrifizierung, weil es so clever klingt. Gleichzeitig gehe ich lieber zum Outdoor-Yoga, als zu demonstrieren. Hypokritin, denke ich. Auf der nächsten Demo bin ich dabei. Also safe. Also voll. Also voll dabei. Ich starre die Häuserfront vor meinem Fenster an und kann den Himmel nicht erkennen. Ich frage mich, wo man in Berlin noch den Horizont sehen kann. Ich rufe einen Freund an. „Dafür musst du raus“, sagt er. „Wann hast du das letzte Mal den Horizont gesehen?“ frage ich. Ich höre ihn Luft aus der Nase pusten und weiß, dass er dabei den Kopf schüttelt. Ein Trauerkranz für die zugebauten Horizonte der Großstädte, bitte.
Sick and tired und niemals satt
Ich habe mich letzte Woche aus der warmen Membran meiner Berlin-Blase begeben und Kurzurlaub im Osten gemacht. Weiter als Dresden und Leipzig habe ich es nicht geschafft, Entfernungen sind ziemlich relativ, habe ich gemerkt. ‚Rauszumüssen‘ bedeutet nicht zwangsweise, den Kontinent zu wechseln, nicht einmal das Land. Der Grat zwischen Flucht und Entspannung ist schmal. Ich denke an meinen Bali-Urlaub vor einem Jahr, von dem ich gestresster zurückkam, als ich losgeflogen bin. Damals musste ich wirklich raus. Gedanklich-emotionale Distanz setzt man in kein Flugzeug. Während man sich selbst durch Ablenkung schadet, schadet man der Umwelt. Geteiltes Leid ist halbes Leid, denke ich. Lasst uns eine Kollektiv-Gesellschaftsreise machen, einfach mal rauskommen, so exotisch wie möglich: Revolution und Klimawandel wiegt man mit unterschiedlichen Wagen. Zynismus stinkt, sage ich und versuche mich zu konzentrieren. Es ist überheblich zu denken, dass alle Menschen, die rauswollen, flüchten. Urlaub ist schön. Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Es ist grau, zwischen Flucht und Entspannung. Ich möchte daran arbeiten, nicht immer von mir auf andere zu schließen. Ich neige dazu, meine Wahrnehmungskapseln mit Eindrücken zu überfordern. Weite Entfernung und ein exotisches Umfeld korrelieren genauso wenig mit Freiheit und Glück, wie schlechtes Wetter mit übriggelassenem Essen. Schein ist das Fastfood-Restaurant an der Autobahnausfahrt unter den Bedürfnisbefriedigungen. Wenn wir vom Schein versuchen satt zu werden, wird uns schlecht. Wir mögen punktuell zufrieden sein, temporär sind wir so chronisch übersättigt wie immer hungrig. Wir sind so voll von Eindrücken und Möglichkeiten, dass wir uns selbst vergessen. Ein fauler Gaumen kann auch die intensivste Süße der leckersten Beere nicht mehr aufnehmen.
Ich sehe meine Omi vor ihrem Computer sitzen und meinen Opa die nächste fragende E-Mail verfassen. Was willst du uns, sagen, Kind? Ich fühle mich übersättigt, Opa. Berlin macht mich übersättigt. Das freiheitliche Privileg unserer Generation ist gleichzeitig der Spaten für unser depressives Loch im Garten der unfreien Begrenztheit. Ich habe meine Übersättigung erst gespürt, als ich mich räumlich davon entfernt habe. Ich habe Bauchschmerzen von Möglichkeiten und Chancen und dem Gefühl, immer zu langsam zu sein, in einer Stadt, deren Paradigma Fülle und Lebensqualität ist. Mir ist schlecht, vom konstanten Rennen. Mir ist schlecht von der ständigen Betäubung der Sinne. Mir ist schlecht von der sklavischen Abhängigkeit der Uhr. Ich will Wasser nicht mehr in Pakete schnüren. Erst in Leipzig, als ich mit meiner Freundin auf einer Wiese sitze und Kaffee für zwei Euro trinke, nehme ich den Tinnitus wahr, der vom permanenten Summen Berlins kommt. Leipzig ist nicht Bali, aber genau das, was ich gerade brauche. Ich lege meinen Kopf auf die Schulter meiner Freundin. Ich kann den Horizont sehen. Ich atme durch. Und meine Bauchschmerzen werden weniger.
Sag mir was du willst und ich sag dir wer du bist
Ich denke gerade sehr viel über eigene Bedürfnisse nach. Vor ein paar Monaten hätte ich mit den Schultern gezuckt und meine Nase gerümpft. Aus Unwissenheit. Menschliche Bedürfnisse sind mehr als Essen und Schlafen, selbst bei den animalischsten Wesen unter uns. Wir alle brauchen Gemeinschaft und Wertschätzung, Respekt und Liebe, Ruhe und Bestätigung. So unterschiedlich wie sich unsere Lebensrealitäten gestalten, verhalten sich unsere Bedürfnisse. Energiespeicher sind so unterschiedlich groß wie Hungergefühle und Schlafrythmen. Ich habe festgestellt, dass es gar nicht so leicht ist herauszufinden, was die eigenen Bedürfnisse sind, und welche wir als von der Gesellschaft vorgegebene Bedürnis-Fata-Morgana aufnehmen. Berlin schreit so laut, dass meine innere Stimme sich die Ohren zuhalten muss und verstummt. Wenn die Stadt nicht schläft, dann fällt es mir schwer, acht Stunden im Bett zu liegen. Irgendetwas wartet immer. „Jeder setzt seine Prioritäten selbst“, sagt meine beste Freundin. Wir reden über Zeit – das höchste Gut im Postmaterialismus. Obwohl ich es so dringend brauche fällt es mir schwer, mir Zeit für mich zu nehmen. Ich spüre die Bedürfnisse meiner Freunde und gleichzeitig den Anspruch, den die Stadt an mich zu stellen scheint. Hier fährt niemand Landstraße. „Berlin macht alt“, sagt meine Freundin in Leipzig. Ich nicke. Und kann erst jetzt spüren, wie sehr mich die Stadt manchmal anstrengt. Die Menschenmassen, die unzähligen Stunden im öffentlichen Nahverkehr, touristenüberströmte Plätze, von Hipstern überflutete Lieblingsbars, eine homogene Masse aus verlorenen Seelen. „Ich glaube, ich muss wirklich mal raus, um neu wiederkommen zu können“, sage ich. Dieses Mal nickt meine Freundin. Ich liebe Berlin. Ich liebe es, das Gefühl der Stadt in meinen Adern pulsieren zu spüren. Ich liebe den kreativen Möglichkeitenjungle in einem freien Toleranzuniversum. Dass hier nach Glück und nicht nach Karriere gestrebt wird. Dass alles irgendwie okay ist. Dass die Phantasie der Erwartung lebt und Träumen nicht naiv, sondern tatsächlich möglich ist.
Trotzdem muss man manchmal rauskommen, um sich selbst wieder spüren zu können. Um das Selbstverständliche neu schätzen oder hinterfragen zu lernen. Sinnesbetäubung ist nur soweit eine chronische Krankheit, wie man sie zulässt. Wir können uns nicht passiv dafür, aber aktiv dagegen entscheiden. Ultra anstrengend, stöhnt mein Ruhebedürnis. Selbstauseinandersetzung zahlt sich aus, sage ich laut und wütend, weil ich müde bin, von Selbstreflektion und Meta-Kommunikation. „Ich bin dankbar, dass ich mich selbst so gut spüren kann“, sagt meine Freundin. Die Bedürfnis Fata-Morgana der Großstadt prallt an ihrer bewussten Achtsamkeit sich selbst gegenüber ab. Harte Arbeit, denke ich. Vielleicht machen wir auch deshalb so gerne exotischen Urlaub. Weil es am Strand schöner ist, seine innere Stimme in Sangria zu ertränken. Happy holiday.
Erkenntnis der letzten Tage:
Unser Gehirn ist kein Muskel, sondern ein Organ, das nicht für permanente Anstrengung und Anspannung geschaffen ist.
Erst wenn wir bewusst von der Autobahn abfahren, können wir die Schönheit der Landschaft genießen. Sich zu verfahren ist wichtiger als okay.
Lass' mal wieder Horizont sehen.
Foto: Unsplash// Donny Jiang
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