Heute ist der 17. März. Ich bin noch ungefähr 5 Wochen in Berlin, weniger ungefähr 37 Tage, oder 2220 Stunden. Es fühlt sich so an, wie es sich anhört: nach verdammt wenig Zeit. Es fühlt sich nach so wenig an, dass es mir körperlich weh tut. Berlin ist mein zu Hause, meine Freunde hier sind meine Familie. Ein Teil von mir will für immer hierbleiben, will, dass sich niemals etwas ändert. Will für immer 23 sein und kurz davorstehen, die Bachelorarbeit abzugeben. Es bleibt alles so, wie es ist, sagt meine innere Stimme und schmollt.
Ich glaube, dass es wichtig ist, sich, in undefinierten Zeitabständen, räumlich zu verändern. Haha, denke ich. Ich bin sieben Mal umgezogen, in den letzten vier Jahren. Mein Raumveränderungskontingent sollte für dieses Jahrzehnt aufgebraucht sein. Ein Stück von mir scheint dieses Vagabundendasein zu brauchen, meine chronische Heimatlosigkeit will schließlich gefüttert werden. Nichtsdestotrotz: Wohnungs- und Ortswechsel sind horizont- und perspektiverweiternd, während sie gleichzeitig rezentralisierend wirken, wenn sie keine Flucht sind. Man soll gehen, wenn es am schönsten ist, denke ich. Dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt. Ich habe ein gutes Leben hier, ich bin zufrieden und in einigen Momenten, sehr glücklich (ja Theodor, Glück ist unfassbar, ich weiß). Ich ziehe nicht an einen Ort, ich ziehe ins Ungewisse. Mein Ungewisses ist schwarz und rot und extra für Frauen. Mein Bagpack. Ich denke an Hedwig und hätte auch gerne eine Eule dabei, die mir meine Post bringt. Ich bin meine eigene Adresse, denke ich, und keine Straße, Hausnummer oder Postleitzahl. Wo ist meine Schneeeule, Mama? Konzentration, denke ich. Okay. Am 2. Mai fahre ich mit dem Zug nach Sankt Jean Piet de Port, um acht Wochen später aus Porto zurückzufliegen. Ich möchte, nein, ich werde, den Jakobsweg laufen. Dieser Text soll weder meine Ängste noch meine Erwartungen, meine Packliste oder eine Frage nach Gott werden, sondern darüber, wie es mir geht, zu wissen, gehen zu müssen, weil ich mich selbst zwinge, mich aus meiner Komfort-Zone schubse, nein, eigentlich trete ich mich heraus, das Leben könnte so einfach sein. Mein Modalverben Endgegner war allerdings schon immer das Müssen, nicht das Können. Ich versuche es in ein Dürfen umzuwandeln, es klappt ganz gut, jedenfalls in einigen Momenten, in wenigen Momenten, es klappt selten. Ich fühle mich privilegiert, dass ich es mir, zeitlich und finanziell leisten kann, den Alltag und alle Strukturen zu verlassen. Meine Wanderschuhe und meine Regenhose verwandeln mich von einer Studentin in eine Pilgerin, mein Reiseführer ist meine neue Bibel, ich gehe Baumwollunterwäsche shoppen und Multifunktionsklamotten und frage mich, welchen Wert meine Füße auf der Schwitzefuß-Skala erreichen, im Vergleich zum Durchschnittspilger. Wandersocken kosten 22€, Lowbudgetpilgrim erweist sich schon bei der Vorbereitung als Hürde. Ich bin letzte Wochen insgesamt vier Mal zu Globetrotter gerannt: Drei Mal wegen Wanderschuhen, einmal wegen dem süßen Mitarbeiter aus der Wanderschuhabteilung. Kein Tabak, kein Alkohol, keine Männer, lautet meine Devise für den Jakobsweg. Anna lacht, als ich ihr davon erzähle. Jan auch. Meine Freunde lachen mich nicht an, sie lachen mich aus. „Das schaffst du nie.“ Vielleicht sollte ich neben meiner Eitelkeit, die bereits im Karton einstaubt, meinen Jagdtrieb nach Testosteron begraben. Und meinen Tabak. Oh Jammertal, das wird anstrengend.
Näheres dazu, wenn ich gedanklich soweit bin. Oder mir meine ersten Blasen gelaufen habe, weil ich mit meinen Wanderschuhen durchs Brandenburger Umland stolpere, anstatt meine Bachelorarbeit zu schreiben.
Es ist Sonntag, ich habe vor kurzem über das Sonntagsloch geschrieben, etwas arrogant, mich würde es nie kriegen, das Sonntagsloch, ich bin viel zu beschäftigt und chronisch glücklich und überhaupt könne ich mich so wahnsinnig gut alleine beschäftigen, ich Alltagstalent. Arroganz ist wie ein Regenschauer, er kommt. Und man wird richtig nass, wenn man keinen Schirm dabeihat. Mein Schirm heißt diese Woche achtsame Selbstreflektion, mein Sonntagsloch hält jetzt schon seit Dienstag an. Ich werde die Sonntagsloch-Gefühle nicht vertiefen, ich möchte weder bei der Produktion noch bei der Rezeption depressive Verstimmungen zwecks Identifikation meiner metaphorischen Sprache, Mensch, ich bin aber auch eine Dichterin, hervorrufen. Wie dem auch sei.
Jede*r weiß, wie es sich anfühlt, traurig zu sein, und alleine. Ich habe aktuell sehr viel Sehnsucht. Vor allem nach Menschen, die ich im Laufe der letzten Jahre aus den Augen verloren habe, häufig ungeklärt, weil es anstrengend ist, zu reden, über Dinge, die sich nicht aussprechen lassen. Ich habe Sehnsucht nach einer Beziehung, während ich weiß, dass es die große Sehnsucht nach einer permanent intakten Beziehung zu mir selbst ist. Ich fühle Schmerz, ohne zu wissen, wo er herkommt. „Die Seele bringt immer nur zum Vorschein, was der Körper in der Lage ist, zu verarbeiten“, sagt meine Freundin gestern. Ich liege in ihrem Bett, wir reden über Leiden und gucken Interviews mit Roger Willemsen. Wir sind uns einig, dass es wichtig ist, zu leiden und traurig zu sein. Dass es wichtig ist, festzuhalten, bevor man loslassen kann. Dass Loslassen Befreiung ist. Freiheit korreliert also mit Leiden, denke ich. Leiden alle Menschen gleich viel? Kann ich mir nicht vorstellen. Gestern war ich der festen Überzeugung, das Leid der Welt sammele sich auf meinen Schultern, verschmelze zum Kollektivleiden meiner Generation, meine Schultern, Zement von Weltschmerz. Ich denke an meine Sonnenscheinmenschen mit ihren unerschöpflichen Energiereserven – meine Elfenfreundinnen, die drei Tage durchtanzen und aussehen als hätten sie acht Stunden geschlafen. Die niemals leiden. „Man kann nur leiden, wenn man sich selber wahrnehmen kann“, sagt meine Freundin. Also leiden nicht alle Menschen gleich. Mein Leidensberg ist groß, denke ich. Mein Glücksberg ist größer, denkt meine innere Optimistin, die sich die Augen reibt. Warum hast du so lange geschlafen, frage ich sie. Ich soll froh sein, so viel wahrnehmen zu können. Gefühle sind keine pürierte Kartoffelsuppe, in der man nur noch mit Glück weichgekochte Fetzen des Staudenselleries identifizieren kann. Weinen heilt, denke ich. Aber woher kommt diese Sehnsucht? Sucht. Ich weiß, dass ich anfällig für zwanghafte Verstimmungen bin. Vielleicht ist meine, die Gefühls-Agenda anführende Sehnsucht ein Ausdruck von dem Schmerz, den ich empfinde, mein Zuhause zu verlassen. Ich sehne mich zurück, bevor ich gegangen bin, weil ich Angst vor dem Unbekanntem habe. Wir alle haben Angst vor dem Unbekannten, Freiheit und Sicherheit kämpfen in jeder Brust.
Ich bekomme eben eine Nachricht. „Wie war Saturday night?“ Und einen Zwinckersmiley. Durchzechte Clubnächte, Sex und seelische Hangover werden einer Samstagnacht in meiner Blase vielleicht gerecht. 12 Stunden Schlaf, Yoga und veganer Crumble eher weniger. Roger Willemsen eher gar nicht. „Richtig, richtig gut“, antworte ich und meine das auch so, während ich mich auf den Crumble freue, der durch meine ganze Wohnung duftet. Ich bin froh, dass ich mich endlich mal wieder ausgeschlafen fühle, dass meine Klamotten nicht nach Rauch und Bier und schwitzenden Menschen riechen. Ich fühle mich heute näher bei mir, als die ganze letzte Woche, weil ich mich selbst behandelt habe, wie meine beste Freundin, achtsam und liebevoll. Meine Sehnsucht ist heute kleiner, obwohl sie immernoch da ist. Ich weiß, dass sie bleiben wird. Eigentlich schön, denke ich. Nach was ich mich sehne, ist dabei egal. Vielleicht sehne ich mich auch nach einem Neuanfang ohne Neuanfang. Es wird etwas kommen, was meine Sehnsucht füllt. Ich will keine Angst davor haben, sondern neugierig sein und mutig. Sehnsucht mit Angst zu begegnen ist fatal, weil man sich Erinnerungen nimmt, bevor sie stattgefunden haben. Im Endeffekt ist alles, was wir haben, Erinnerungen, denke ich. Und Abschlüsse vielleicht, aber ich glaube nicht, dass uns ein Bachelorzeugnis in Momenten des Lebenshinterfragens zum Weinen bringen wird. Besondere Erinnerungen können Sehnsüchte auslösen. Wie wunderschön, dass wir Sehnsucht fühlen – was wäre die Welt sonst für ein trister Ort.
„Wer leben will, muss das Fieber riskieren“, höre ich Friedrich Hebbel sagen. Was ist dein Fieber, fragt mich mein Spiegelbild. Ich merke, dass mir eine Antwort fehlt. Vielleicht ist meine Sehnsucht mein Fieber, die Suche, nach Liebe, nach Sinn, und nach grenzenloser Freiheit.
Foto: Unsplash// Emanuel Haas
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