Es ist Sonntag, kurz vor zwölf. In zwei Stunden muss ich arbeiten, für mich ist jeder Sonntag ein Montag, ich denke für fast alle Studierenden. Und überhaupt lösen sich Wochentagsstrukturen immer mehr auf, wahrscheinlich war das schon immer so, ich nehme es nur das erste Mal wahr, weil ich mich davon frei machen kann. Wahrscheinlich, weil ich in Berlin wohne, nicht mehr nur räumlich, sondern endlich emotional. Nach fast 4 Jahren ist das eine gute Bilanz, ich klopfe mir selbst auf die Schulter. Ich wusste, dass ich lange brauche um mich anzupassen. Ich denke eigentlich in Wochen, nicht in Jahren. Ja, Integration dauert, denke ich. Ob mir das Bundesministerium für Inneres auch Geld gezahlt hätte, um mich nach Hessen auf mein friedvoll-monotones Dorf der einfältigen Stetigkeit zurückzuführen? Sonntagsgedanken, denke ich. Als ich eben die Wohnung gesaugt habe, um kurz nach zehn, habe ich mich wie ein Störenfried gefühlt, die Membran der heiligen Sonntagsruhe durchbrechend – in Neukölln oder im Wedding hätten sich meine dumpfen Staubsaugergeräusche dem Bass der Afterparty bei Saskia angepasst. Vielleicht hätte wenigstens meine Katze nicht gehört, dass Sascha vom Balkon gebrochen hat. Ich habe keine Katze. Sascha heißt eigentlich anders. Auf den Straßen im Osten von Berlin, ein Hupkonzert, denke ich. Eine türkische Hochzeit, sagt Fatima, wir trinken Multivitaminsaft, Fatima, meine Lieblingsbackwarenverkäuferin. Warum hupen Menschen auf türkischen Hochzeiten, also Menschen in Autos, die türkische Hochzeiten zu einer Eventlocation begleiten, also Teil der türkischen Hochzeit sind, immer so ausgiebig? Oder heiraten türkische Menschen in Berlin einfach öfter als andere? Oder sind deutsche Hochzeiten einfach zu deutsch, um laut sein zu dürfen? Sonntagsgedanken, denke ich. Ich wohne in Charlottenburg, nicht im Wedding. Ich versuche aktiv Störgeräusche in meinem näheren Umfeld auszumachen, ich höre nichts, außer mein Tippen, was leicht hysterisch klingt, während ich meinen Fingern zusehe. Sie könnten über die Tastatur gleiten, sie hacken mehr darauf herum. Ich denke an Hühnchen und Antibiotika und frage mich, was meine Nachbarn gerade frühstücken.
Sollte der Sonntag eine kulturhistorische Widerbelebung erlangen? Zurück zu seinen Feiertags-Wurzeln? Meine Oma würde sagen, er sei davon niemals abgewichen. Ich frage mich, ob es einen Sonntag gab, an dem sie nicht zur Kirche gegangen ist. Oma fragen, Kirche, speichere ich in die Schublade der Namen von Menschen, deren Anruf ich aufschiebe ohne zu wissen warum, ein. Eigentlich gefällt mir der Gedanke, dass ein Tag in der Woche für Ruhe und Familie reserviert ist. Ich muss mich selber auslachen, meine Familie wohnt fast 600 Kilometer entfernt und Ruhe kann ich schlecht aushalten. So, wie der Sonntagsgedanke ursprünglich gedacht war, funktioniert er für mich also nicht mehr. Ich weiß, dass ich nicht die einzige bin. Während Pia noch im Kater tanzt schreibt Freundin X Bachelorarbeit, Freundin Y hat Sex, Freund Z liegt alleine im Bett und besänftigt sein einsames Gemüt mit einem Serienmarathon, oh Jammertal. Ich denke an meine Kindheit zurück und wie meine Erziehung den Sonntag gedacht hat zu verbringen. Sofort kommt mir die Sendung mit der Maus in den Sinn, ich denke an Christoph, Ralph und Armin, in der Bäckerei, im Wald, bei der Feuerwehr. Ich kann mich an keine Moderatorin erinnern. Patriarchalisch, denke ich. Wo ist eigentlich Käptn Blaubärs Frau, denke ich. Meine Sonntagserinnerungen sind erschöpft, das einzige Bild was durch meinen Gedankenpalast schwebt ist der silberne Eieröffner von meinem Papa. Sonntags gibt’s Frühstücksei. Sonntags gibt’s Fleisch. Sonntags sind wir König*innen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Während ein Großteil der Menschen die Fülle des Lebens an einem Sonntag richtig auskostet, die Überflussgesellschaft kann so schön sein, fällt ein kleiner Teil in ein Sonntagsloch. Eine Sonntagsneurose, denke ich. Weil Schnelligkeit abfällt und der Sinn des Lebens, hervorgerufen durch Arbeit, schläft, denke ich. Eine Sinnarmut macht sich breit, traurig, denke ich. Leider sind die Geschäfte geschlossen und man kann sich nicht einmal mit Einkaufen ablenken, ein Jammertal. Dann gehen wir halt spazieren, frische Luft hat noch niemandem geschadet. Und überhaupt, verbringen wir viel zu wenig Zeit zusammen. Also Quality-time. Während Peter das sagt schaut Hans auf sein Handy und Brigitte lacht wütend. „Bitte nicht am Sonntag“, sagt sie. Sonntags streiten wir nicht. Sonntags gibt es keine Skandale, sonntags scheint auch bei Regen die Sonne. Es gibt Braten und Klöße und Rotkraut und noch mehr Braten. „Will noch jemand Braten?“ Nein Brigitte.
Es ist gleich 13 Uhr und ich muss meine Wäsche noch aufhängen, bevor ich mit dem Fahrrad in das Café fahre, in dem ich gleich Familien und Pärchen und noch nicht Pärchen und immer noch Pärchen mit Mango-Mascarpone-Torte („mit Tonkabohne, wirkt aphrotisierend“) beglücken darf. Ich arbeite gerne sonntags, weil die Menschen entschleunigt sind. Es gibt mehr Trinkgeld und die Stimmung ist freudig-belebt. Weil Termindruck und Kalorienzählen von Karottenkuchen und Cappuccino verdrängt werden. Immer wieder sonntags. Ich arbeite gerne sonntags und frage mich, was ich sonst mache. Wenn ich mir freigenommen habe, um meine Bachelorarbeit zu schreiben zum Beispiel. Dann mache ich alles, außer Bachelorarbeit schreiben, denke ich. Meistens arbeitet meine Alkoholdehydrogenase, das ist genug Arbeit, denke ich, für Afterparties an einem Sonntag bin ich zu uncool. Ich nehme mir vor, Oma nächste Woche anzurufen, oder diese - ist Sonntag nun der erste Tag der Woche oder der letzte – und sie nach der Heiligkeit des Tages zu fragen. Vielleicht bin ich demnächst mal ganz konservativ und gehe in die Kirche. Oder aftern, nicht in der Kirche. Saskia, machst du das jedes Wochenende? Nicht die Kirche, die Party? Wer ist überhaupt Saskia, fragt meine Katze. Meine Katze ist eigentlich ein Eisbär, oh Jammertal. Ich höre meinen Nachbarn stöhnen, meine Nachbarin höre ich nicht, ich frage mich, ob ich überhaupt eine Nachbarin habe, ich nehme mir vor, einen Nachbarschaftskuchen zu backen, vielleicht nächsten Sonntag.
Foto: Unsplah// Flo Karr
Armand
Sehr schöner Text Chrissi!
Armand, direkt aus der Schublade